Im Herzen des Kreuzviertels
Vom Beginn des Kreuzviertels auf dem Gebiet der früheren Bauernschaft Uppenberg, dem Bau der Straßen und auch der Hoyastraßen bis zu Little Italy mitten im Kreuzviertel war ein langer Weg. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist dies auch der Weg meiner Familie Lodde / Campisi.
Vorgeschichte des Kreuzviertels
Altes Gartenland, die alten Stiegen, einzelne kleine Häuser – mehr ist in der Zeit vor 1850 im Kreuzviertel bzw. der alten Bauernschaft Uppenberg weit und breit nicht zu sehen. Zu dem Zeitpunkt gehörten viele Felder im Kreuzviertel der zugehörigen Gemeinde Überwasser. Wenn die Stadt die Pläne zum Bau des großen Kanals befolgt hätte, wäre dieser mitten durchs spätere Viertel gegangen.
Spätestens seit Münster um die Jahrhundertwende seine Volluniversität bekam, siedelte sich im nahe zur Uni und zu den Kasernen befindenden Viertel Offiziere, Beamte und Professoren an. Daher wurde die Gertrudenstraße auch Professorenstraße genannt.
Einzelnen alte Häuser aus der Zeit vor 1850 haben bis heute überlebt, z.B. Stierlinstraße 10 und Coerdestr.10. Ansonsten wurde hier ab 1890 begonnen, das Viertel im Jugenstil zu bebauen.
Private Initiativen
Dabei vollzog sich die Bebauung des Kreuzviertels weitgehend durch private Initiativen und Investitionen. Da gab es zum einen die Grundbesitzer, die öffentliche Straßen bauten und damit ihr Garten- oder Ackerland in Bauland umwandeln konnten. „Eine andere Art der Privatinitiative“, so Annette Baumeister, „ergab sich dadurch, dass neben den für Eigenbedarf bauenden Bauherrn, auch Bauunternehmer, Architekten, Zimmermeister usw. eine Anzahl von Häusern auf eigene Rechnung bauten, nicht um sich in erster Linie Mietshäuser zu schaffen, sondern – etwas spekulativ – einen Teil dieser Häuser mit Gewinn zu verkaufen, um mit diesem wiederum neue Objekte zu finanzieren.
Der Kamp der Familie Lodde
Die Familie und Verwandtschaft meiner Oma, ursprünglich vom Coerdeplatz und dort heute noch teilweise ansässig, waren Besitzer eines großen Kamps, der circa 3.200 qm groß war. Dort standen relativ mittig zwei Stallungen bzw. Häuser, die zur ältesten Bebauung gehörten. Ein Stich, die sogenannte alte Dungstiege, die/den die alte Karte zeigt, führt ins innere des Kamps, um wie der Name sagt, Dünger und Abfall abzutransportieren. Das eine Haus diente als Pferdestall bis in die 1970er Jahre und ist heute Wohnhaus Raesfeldstr. 11a, das andere war bis zum Krieg der Tanzsaal des Nordsterns. Davon stehen heute noch hinter dem Nordstern Ruinen.
Erste Häuser in der Hoyastraße
In der Zeit von 1898 bis 1903 errichtete die Familie meiner Oma, namentlich der Bauunternehmer Theodor Lodde auf dem Kamp neun Häuser. Vier zur Raesfeldstraße und fünf zur Hoyastraße. Währenddessen errichtete die Gemeinde Überwasser unter der Leitung des Architekten Hilger Herthel die Heilig-Kreuz-Kirche (Erbauung 1899–1902).
Heilig-Kreuz-Kirche
Warum Heilig-Kreuz? In diesem Fall hat die Kirche den Namen des Viertels angenommen und nicht das Viertel den der Kirche, wie es sonst üblich war. Architekt Herthel dimensioniert die Kirche für den Bereich und die Größe des Viertels in den Augen vieler zu groß. Abgerundet wird das Statement dadurch, dass die katholische Gemeinde Überwasser den protestantischen Bewohnern mit dem Bau des viel zu hohen Turms (Fertigstellung 1908) zeigen wollte: dieses Land ist katholisch! Der Turm als Ausrufezeichen.
In dieser Zeit lebte als Mieter der Loddes Generaloberst von Einem in der Hoyastraße 9. Über ihn wird folgende Geschichte überliefert, die sich vor seiner Zeit im Kreuzviertel ereignete:
Dönekes
Bevor Generaloberst von Einem, genannt Rothmaler, als Kommandierender General in den linken Flügel des münsterschen Schlosses einzog, residierte dort der General der Kavallerie von Bernhardi. Und dieser General Bernhardi ritt eines Tages im Laufe des Jahres 1909 zur Loddenheide heraus, wo die ihm unterstellten Truppen den Angriff übten. Einen Rittmeister, der katholisch war, spottete der General, selbst evangelisch, auf seinen Glauben hin an, etwa in dem Sinne, ob er wohl schon seiner Sonntagspflicht nachgekommen sei. Der Rittmeister war zutiefst betroffen und beleidigt. Er beschwerte sich beim Kaiser in Berlin. Der Kaiser entließ den Kommandierenden General.
Um 1914 sind alle 9 Häuser der Familie Lodde an der Kreuzkirche fertiggestellt, die ersten schon um 1899. Einige (zur Raesfeldstr.) werden direkt an Privatinvestoren verkauft, die andern wurden behalten.
Auch nach der Mehrfamilienhaus- und Einfamilienhausbebauung der Firma Th. Lodde blieb die landwirtschaftliche Nutzung des Kamps bestehen. Hühner, Pferde, Kühe und Schafe leben in kleinen Stückzahlen auf dem übrig gebliebenen Feld des Kamps.
Nordstern
Theoder Lodde hatte eine weitere Idee. Ganz westfälisch meint er: „Zu einem Kirchplatz und einer Kirche gehört auch eine Gaststätte!“ Daher eröffnet mit Fertigstellung des Hauses Hoyastr. 3–5 im Jahr 1903 der Nordstern, ursprünglich auch teilweise im Haus Nummer 5 untergebracht. Da dieser von den vorherigen Pächtern nicht gut geführt wurde übernimmt Heinrich Theodor Lodde und Tante Hedwig 1924 den Nordstern,. Er hatte durch eine Kriegsverletzung Beeinträchtigungen im Geschmacksinn und konnte somit den gewohnten Berufs des Bäckers nicht mehr ausüben. Prominente Gäste des Nordsterns waren unter anderem Prof. Dr. Max Geisberg – ihm sind die spektakulären Kreuztorfunde zu verdanken.
Verkauf
Theodor Lodde verkaufte um 1924 das vorletzte, sich noch im Besitz der Familie befindliche Haus Hoyastraße 5 an den Regierungsrat Dr. Arnold Schlömer. Bei der Aufteilung der Grundstücke, die aus dem Kamp resultierten, blieb Lodde der alten Struktur treu. Alle Häsuer bekamen ein möglichst gerade zugeschnittenes Grundstück und das Eckhaus Hoyastr. 5, dessen Flur auf der alten Dungstiege errichtet wurde, bekam das Innerste des Kamps als Garten, welches noch heute über die mittlerweile sicherlich 150 Jahre alte Dungsteige zu erreichen ist. Klugerweise ließ sich Lodde ein Wegerecht auf das Grundtsück der Raesfeldstr 11 im Grundbuch eintragen, dass bis heute besteht. Die Gewerbeeinheit in der Hoyastraße 5 war bis zum Krieg eine Buchbinderei, die seit den 1930ern von der alteingessenen Familie Kiekenbeck geführt wurde. Später zogen sie mit der Buchbindrei in die Hoyastr. 7 und leben immer noch in der Hoyastraße.
Zerstörung und Wiederaufbau
Als Münster in den 1940ern schwer von den Bomben getroffen wurde, blieb das Kreuzviertel relativ verschont. Dennoch zerstörten Bomben den hinteren Flügel des Hauses Hoyastr. 5, die Kegelbahn, den Tanzsaal und die Hoyastr. 7 gleich zweimal. Nach kurzem Wiederaufbau detonierte erneut eine Bombe. Die Hoyastr. 7 baute die Erwerberfamilie, die heute immer noch Eigentümer ist, alleine wieder auf. Als Baumaterial holten Vater und Sohn die alten Backsteine der zerbombten Kreuzschule und verbauten diese.
Tante Hedwig vom Nordstern sagte zur zerstörten Kegelbahn: Sie würde Ihren Ehering geben, damit die Kegelbahn wieder steht. Diese wurde auch direkt wieder aufgebaut, während vom Tanzsaal bis heute nur noch die Ruinen übrig sind.
Regierungsrat Schlömer baute den hinteren Flügel der Hoyastr. 5 nur zweigeschossig wieder auf und ließ die Schäden am Dach mit Planen provisorisch abdecken. Diese Schäden bestanden bis in die 80er Jahre.
Als 1954 die Fußballweltmeisterschaft im Fernsehen übertragen wurde, stellte Karl Hoffmann, Besitzer des Elektroladens Hoyastraße 4, einen Fernseher ins Schaufenster. Dicht gedrängt standen die Kreuzvierteler vor dem Laden und verfolgen die Fußballspiele.
Nach dem Krieg ergänzte Klaus Lodde, Großcousin meiner Oma, den Nordstern mit der Idee der Brathähnchen, die Anfangs noch im Garten gackerten.
Dönekes
Tante Claire war die Tochter von Theodor Lodde, geboren 1905. Sie erzählte gerne Dönekes aus dem Viertel. Diese und andere finden sich in dem Eintag „Dönekes“…
Italienischer Flair im Kreuzviertel
1973 erwirbt Giuseppe Pasquariello das Haus Hoyastr. 5 und eröffnet zunächst die Pizzeria Italia in der Gertrudenstraße/Ecke Studtstraße. Einige Monate später folgt die Pizzeria La Taverna in der Hoyastraße 5. Der Grundstein für Münsters „Little Italy“ ist somit gelegt.
Franco Ravida, Cousin meines Vaters Enzo Campisi, der selbst mit 15 nach Deutschland kam, holt meinen Papa 1978 nach Greven nach, wo er als Gastarbeiter tätig war. Die Arbeit in den Grevener Textilfabriken gefiel beiden nicht. Beide gingen in die Gastronomie. Ein Novum für die Deutschen war die Pizza und das „gummi arabicum“, wie die Westfalen die Pasta geliebäugelnd belächelten. So fing mein Vater bei Giuseppe Pasquariello an, der dringend Verstärkung für die Pizzeria Taverna brauchte.
Taverna
Die Taverna hatte damals den Eingang ganz rechts und war auf zwei Etagen in der ehemaligen Werkstatt von Kiekenbecks unterbracht. Dennoch standen die Leute Schlange, vor allem junge Menschen und Teenager, denen der Nordstern zu altbacken war. Darunter auch meine Mutter, die aus einer alten Münsterländer Familie stammt, die zur Verwandtschaft der Nordstern-Dynastie gehört. Sie besuchte die Taverne – wegen des Essens oder wegen meines Vaters – einmal die Woche. Da war sie gerade 18 geworden.
Der erste Arbeitstag beginnt für meinen Vater unglücklich: Mit vier Pizzen auf dem Arm stolpert Enzo auf der vorletzten Stufe der Treppe und fällt der Länge nach hin.
Zu seinem damaligen misslichen Lebensumständen gehörte auch, sich mit sechs Kollegen ein Zimmer teilen zu müssen, direkt über der Taverna – dem Lokal, in dem er meine Mutter kennenlernte, über dem er mit 6 Kollegen in einem Zimmer hauste, in dem Gebäude, das von Verwandten meiner Mutter gebaut wurde, und in dem er 30 Jahre später zusammen mit ihr Wohnungen und vorallem die Taverna erwarb. La rivincita sulla vita (Die Rache am Leben).
Immer mehr Menschen besuchen die Taverna, es wird von der Pizza Fabrik in Münster gesprochen, dreimal vergrößert Pasquareillo die Taverna um weitere Gasträume, bis er 1984 das ganze Erdgeschoss bezogen hat.
Little Italy
Little Italy kommt gut an und wächst. Die Hill Filiale in der in der Hoyastr. 2 und 2a hat ihr Ende verkündet. So entstand die Idee von meinem Vater und Pasquariello, dort eine Eisdiele zu eröffnen. 1980 eröffnen meine Eltern das erste Eiscafé im Kreuzviertel. Gerade noch rechtzeitig vor der Eröffnung wurde meine Mutter mit Ihrer Ausbildung zur Erzieherin fertig. Das Eis kam gut an – dennoch war es noch nicht ganz italienisch. Meinem Vater fehlte la dolce vita. Das lange Sitzen auf den Piazzas Italiens bis tief in die Nacht. Hier in Münster saß man nur in den Kaffeewirtschaften (z.B bei Eggert) draußen.
Mein Vater beantrage 1982 als erster Gastronom, Kunden draußen bedienen zu dürfen. Die Stadt Münster war zunächst skeptisch und vielleicht auch etwas überfordert, wie man das versicherungstechnisch regeln sollte. Doch dann ließ die Stadt sich darauf ein. So standen im Sommer 1982, passend zu Italiens WM-Sieg in Madrid, die Tische draußen. Papas Cousin eröffnete ebenfalls 1983 eine Eisdiele und sorgt heute noch für italienischen Flair in Gievenebeck (aber das ist eine andere Geschichte).
Una festa di piazza
1984 trat in Tecklenburg eine apulische Band auf, alles Freunde von Pasquariello. Schon länger planten mein Vater und Pasquariello „una festa di piazza“ – ein Straßenfest. Improvisiert trat die Band 1984 an einem Wochenende auf der Parkinsel vor der Kreuzkirche auf. Das Fest kam so gut an, dass am Samstag Abend das Ordnungsamt das Fest frühzeitig beenden musste, da so viele Leute kamen. Böse Stimmen munkeln, die Geschäftsleute aus dem Kuhviertel hätten sich beschwert, da bei ihnen nichts los war 😉
Sanierung und Denkmalschutz
1985 saniert Giuseppe Pasquariello die Hoyastr. 5. Der Kriegsschaden am Dach wird beseitigt und der Vorgarten wird zur Terrasse umgewandelt und somit zur Außengastronomie. Außerdem erhält das Haus seinen berechtigten Denkmalschutz, sowie den Preis für eins der schönsten Häuser im Stadtbild. Die Denkmal-Plakette ziert aber erst seit März 2022 die Fassade. Nordstern, Glocke etc. ziehen nach und eröffnen vor Ihren Lokalen ebenfalls Außenbereiche.
In den verwunschenen Jugendstil-Gärten bleibt es aber, zumindest in der Hoyastr. 5 ländlich, bis heute. Durchquert man die Dungstiege stehen im Gartenbereich des alten Lodde´schen Kamps heute noch die drei Obstbäume: Apfel, Walnuss und Kirsche.
Bis 2008 sind meine Eltern Betreiber des Eiscafés. Glücklich schauen sie auf das Geschaffene zurück. Pasquariello hat nach der Sanierung des Gebäudes Hoyastraße 5 einige Wohnungen als Eigentumswohnungen verkauft. Die „Italienische Hälfte“ des Gebäudes ging erst an seinen Bruder über (mit LaTorre ebenfalls Pizzeria-Betreiber in Münster), dann an meinen Vater. Des Weiteren gehörte die Pizzeria Rimini in der Sonnenstraße ebenfalls Pasquariellos, ausserdem die Pizzeria Piccolo in der Frauenstraße und auch andere Pizzerien. Cousin Franco eröffnete 2010 das Eiscafé Milano due in den Arkarden.
Una grande Famiglia: Loddes, Campisis und Pasqauriellos haben italienischen Flair ins Viertel gebracht. Ebenso auch Christoph Jauch, der seinen Beruf in Bozen erlernte. Nicht zuletzt geht die abendliche Beleuchtung der Kreuzkirche auf meinen Vater zurück, der seine Idee durchsetzte, die Kreuzkirche Abends zu beleuchten, sowie man es in Italien auch mache. Der Verein der Geschäftsleute war zunächst skeptisch, aber als mein Vater anbot, den größten finanziellen Beitrag zu übernehmen, waren sie dann doch überzeugt.
Von Gian-Luca Campisi.
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7 Antworten auf „Little Italy – Meine Hoyastraße“
[…] vom Grill (nach italienischer Art) und es hatte bis 3 Uhr nachts geöffnet. Dies war der Beginn von Little Italy… Später arbeitet hier Enzo Campisi, der das erste italienische Eiscafé im Kreuzviertel […]
Dziękuję tobie bardzo Luca.
To bardzo ciekawy artykul.
Wlasnie dzi.s wspominalismy z mają zona czasu kiedy pracowalismy u Enzo.
Serdeczne pozdrowienia z Polski przesylaja Marek I Bogusia Broniccy
Witam,
pokazam i przetłumaczye waszą wiadomość dla Gian-Luca. Mam nadzieje że on i Enzo będą się części 😉
Jestem kolegę od Gian-Luca
Pozdrawiam z Münster, Alberz
Spannend! Vielen Dank!
Ein super Bericht
Danke
Super interessanter Artikel!
Glückwunsch, Gian-Luca, zum ersten Artikel!